Die «Grande Dame» mit jungem Spirit

Die «Grande Dame» der Schweizer Luxushotellerie deckt zur Rundumerneuerung auf: Mit Kindervilla, neuen Restaurants wie dem «Radius» und Speisekarten, die vermehrt vegan und noch radikaler lokal sind.



Stefan Beer steht draussen vor dem imposan­ten Prachtbau des «Victoria-Jungfrau Grand Hotel & Spa» und blickt der Sonne entgegen, die sein weisses Kochhemd leuchten lässt. Die Rasenfläche zu seinen Füssen wird auf die Sommersaison hin in eine Terrasse für sonnen- und genusshungrige Gäste verwandelt: Diese erweitert das Restaurant «La Terrasse Brasserie», das seit Ende 2021 Brasserie-Klassiker mit modernem Twist bietet. Dies ist nur eine der zahlreichen Neuerungen, die derzeit ein Werkzeugkasten hier und eine Baumaschine da erahnen lassen, wenn man durch die noblen Hallen mit 150-jähriger Geschichte schreitet: So sind auch die Räumlichkeiten für das neue Gourmetrestaurant «Radius by Stefan Beer» in Entstehung. Hier wird der Executive Küchenchef die Erfolgsstory seines «Menü vo hie» ab Frühsommer 2022 fortführen, das er im ehemaligen Fine-Dining-Restaurants «La Terrasse» bereits etabliert hatte.



«Ich fokussiere mich weiterhin bei der Zutatensuche auf das Tal zwischen den zwei Seen», sagt der Chefkoch und kneift seine Augen wegen der grellen Frühjahrskraft der Strahlen zusammen. Kein Auge zu drückt er hingegen, wenn es um die Herkunft der Produkte geht, aus denen er seine Speisen kreiert. Er lässt seinen Blick schweifen, auf die Interlakner Flaniermeile und die wolkenkratzenden Felswände. Nein, die Zutaten stammen nicht gerade aus Sichtweite, aber beinahe: Im Umkreis von maximal fünfzig Kilometern wurzeln, gedeihen, weiden, blühen und schwimmen die Rohstoffe, aus denen jene Raffinesse entwächst, für die ihn «Gault Millau» jüngst mit 17 Punkten auszeichnete – ein Punkt mehr als im vorherigen Rating.



Ursprung im Umkreis von 50 Kilometern

Fünfzig und keinen Kilometer mehr. Die Spielregel für sein Gourmetkonzept hat der Spitzenkoch selbst aufgestellt: «Mich so radikal im Radius einzuschränken, gibt mir Inspiration», erläutert er, «und es lässt mir folglich keine Wahl, strikt saisonal zu kochen.» Fragt ein Gast im nie enden wollenden Spätwinter nach Spargeln, scheut sich Stefan Beer nicht davor, am Tisch zu erklären, dass jene aus Belp noch nicht Saison haben. «Solche Aha-Erlebnisse sensibilisieren die Gäste, was Nachhaltigkeit tatsächlich bedeutet: Nämlich, dass manches noch nicht oder nicht mehr verfügbar ist.» Überdies verleihe es dem Genuss eine ungeahnte Echtheit: «Es würde sich doch nicht stimmig anfühlen, auf einen von Bergen umrahmten See zu blicken und dazu Meerestiere aus Südafrika zu essen, oder?»

Bloss aus der Schweiz? Das wäre eben nicht wirklich «vo hie» genug für den Küchenchef. Über Jahre hinweg hat er die Gegend durchstreift und Einheimischen Insider-Adressen entlockt, um Lieferanten aufzuspüren, die seine Philosophie mittragen. Die Geschichten, die er erlebt, erzählt er seinen Gästen weiter, denn mittlerweile ist er allen, die Erlesenes zu seinem Menü «vo hie» beisteuern, begegnet. So schipperte er mit Fischer Marco Gurtner über den Brienzersee, um das Glück zu mehren, einen Hecht an der Angel zu haben. Oder balancierte im nahgelegenen Feld von Peter Zwahlen zuoberst auf der Holzleiter, um den rotbackigsten Apfel zu pflücken. Oder spazierte mit der «Trüffelfrau» Christina Mader aus Bönigen und ihrer vierbeinigen «Schnüffelnase» Camina durch die Wälder, auf der Suche nach dem schwarzen Gold.


Eine der Partnerschaften ist jene mit «Espro» in Uetendorf: Gerade feilt er an einem Gericht, für das sämtliche Zutaten wie «Micro­greens», Sprossen, Blüten und Pilze aus dem Familienbetrieb stammen. Unter dem Motto «Was noch nicht hier wächst, wird hier angepflanzt» experimentiert Frédéric Amstutz-von Arx zurzeit mit dem Anbau von Ingwerknollen, die er speziell für Stefan Beer in der nährstoffreichen Erde vergräbt. Diese Speise kredenzt Stefan Beer in Tellern und Schalen, die eine Künstlerin aus Wilderswil für ihn getöpfert hat. «Das macht es im eigentlichen Sinn doppelt lokal», kommentiert er mit Freude, die ihm ins Gesicht geschrieben steht. Dass gerade Stefan Beer auf radikal-lokal setzt, ist bemerkenswert, sind seine Kochkünste doch von internationalen Einflüssen geprägt: Mit 29 Jahren zog es ihn die Ferne, wo er an Stationen wie Shanghai, Bangkok, Singapur oder Dubai Halt an den hochkarätigsten Herden machte. Nach zehn Jahren in den wummernden Weltmetropolen, in denen seine Restaurants regelmässig Gastro-Bestenlisten anführten, kehrte er 2016 mit seiner Frau und seinen zwei Kindern zurück in die beschauliche Heimat – und mit dem Engagement im Fünf-Sterne-Superior-Haus «Victoria-Jungfrau» auch in die Region ­zurück, wo er aufgewachsen ist. Sein Vater, der aus Spiez stammt, führte einst gemeinsam mit seiner Mutter ein kleines Dorfrestaurant, nicht zuletzt deshalb war für Stefan Beer das Berufsziel früh klar. Bereits kurz nach seiner Kochlehre gewann er internationale Wettbewerbe wie den «Culinary World Cup».


Nahe an der Wahrheit bleiben

Damals, als junger Koch, habe er noch gedacht: je komplizierter, desto besser. Diese Definition von vermeintlicher Kreativität war auch beeinflusst durch seine Ausbildungsjahre. Später erlangte er die Erkenntnis, dass es nicht dreissig verschiedene Zutaten braucht für ­einen Gaumenschmaus, ganz im Gegenteil: Das empfinde er als gesucht, gekünstelt. Einer seiner Lehrmeister öffnete ihm die Augen: «Stefan, ­du kannst ein Lamm rollen, drehen und schneiden, – aber es einfach perfekt braten, das kannst du nicht», klingen die aufschlussreichen Worte scheinbar bis heute in seinen Ohren nach. Lieber setzt er heute auf qualitativ hoch­stehendes Lamm aus der nächsten Umgebung, so perfekt gelagert und gebraten wie nur möglich, und vollendet mit dem, was es ins beste Licht rückt. Es gehe ihm nicht mehr darum, ­es zu marinieren, zu stopfen oder zu füllen, sondern eben möglichst nahe am Ursprung zu belassen – «bei der Wahrheit zu bleiben», wie er es bezeichnet.

Die Auslandstationen haben ihn geprägt: «Doch anders, als man vielleicht denkt», sagt er schmunzelnd. In der Ferne habe er gelernt, dass Fusion für ihn nicht funktioniert: Er will freigeistig jenes kombinieren, was miteinander wächst, am selben Ort. «Wenn ich Äpfel, Pflaumen und Honig habe, ergibt sich daraus intuitiv, fast wie von allein, eine Kreation.» Völlig ­anders gestaltet es sich bei der veganen Zubereitung: Das Kochen erfordert eine andere Denk- und Herangehensweise: «Wie mache ich es cremig?» «Wie luftig?» «Wie binde ich es – und muss ich das überhaupt?» Diese forschenden Fragen hat Stefan Beer exzessiv ergründet, sodass es sein durchdachtes Sechs-Gänge-­Menü fortan auch als vegane Version auftischt.


Exzessives Experimentieren

Das ist gewissermassen eine Lorbeere des Lockdowns, denn während diesem hat sich der Spitzenkoch exzessiv mit der Kochkunst beschäftigt, die auf rein pflanzliche Ingredienzen setzt. Vegane Gäste sind es gewohnt, im Restaurant eine – im wahrsten Sinn – abgespeckte Variante des Menüs vorgesetzt zu bekommen. Bei Stefan Beer und Küchenchef Michael Althaus aber handelt sich es um eine explizit ausgetüftelte Speiseabfolge, die dem Fleisch- oder Fischmenü in ihrer Exzellenz in nichts nachsteht. «Ganz verkehrt finde ich es, beim veganen Menü zu versuchen, Fleisch oder Fisch zu imitieren», stellt Stefan Beer klar. Von Fleischersatz hält er nichts: «Das wäre bloss Plan B, weil man das Original verschmäht.» So kommt es vor, dass er Komponenten kurzerhand zu seinem eigenen Original macht: Experimentieren ist wichtig im Team um Stefan Beer, so wurde zum Beispiel aus einheimischen Linsen «Peaso» anstelle von «Miso», welches aus Kichererbsen gemacht werden würde. Allein deren Fermentation, bei der Küchenchef Michael Althaus federführend war, dauerte drei Monate. «Manchmal macht es irgendwann im Prozess klick, manchmal aber verwerfe ich eine Idee, nachdem ich sie ein Jahr lang emsig verfolgt habe.» Das Gesamtwerk müsse stimmen, sowohl Geschmäcker wie Texturen. Das regt auch Nicht-Veganer an, den einen oder anderen rein pflanzlichen Gang zu verköstigen. «Wohl aus Neugierde», mutmasst der 43-Jährige.


Wissen, wo das Wahre keimt: Stefan Beer pflegt persönliche Beziehungen zu Fischern, Käsern und Bauern, welche die erlesenen Zutaten für seine Gerichte produzieren, nicht selten extra für ihn.


In neuem, aber vertrautem Gewand

Die neue Küche, wo der Executive Chef seine kulinarischen Ideen zu Teller bringt, steht bereit – doch an den innenarchitektonischen i-Tüpfelchen des neuen Gourmetrestaurants «Radius by Stefan Beer» feilt das Team noch. Und nicht nur daran: «Wir sind dauernd dabei, dies zu überdenken und das zu verändern», beschreibt Herzblut-Hoteldirektor und -Gastgeber Peter Kämpfer den Umbruch. «Es ist eine Gratwanderung, die Grandezza von einst zu bewahren, aber dem Interieur dennoch einen modernen Twist zu verleihen.» Wer das Parterre ver­lässt, spürt statt blitzblankem Marmor federnden Teppich unter den Füssen, in den Gängen, wo sich Tür an Tür reiht, hinter denen sich Zimmer und Suiten in neuem Gewand verbergen. Man habe den Räumlichkeiten eine zeitgemässe Aura verliehen: «Aber nicht so, dass man beim Aufwachen nicht mehr weiss, wo man ist», präzisiert Peter Kämpfer lächelnd. Jedes gehoben-gemütliche Gästezimmer variiert im Grundriss und leicht in den Farbnuancen. Die wohnliche Superior-Suite ist beispielsweise speziell für Familien konzipiert, die das «Victoria-Jungfrau» im Wandel zum Resort künftig stärker anspricht: «Das ehemalige Personalhaus verwandeln wir derzeit in eine Kindervilla, in der die Kleinen spielen können», verrät der Hoteldirektor.


1 | 3 Appetit auf Authen-tizität: In der «La Terrasse Brasserie» interpretiert das Küchenteam Schweizer Gerichte und internationale Brasserie-Klassiker modern, wie die Militär-Käseschnitten, den Victoria’s Burger oder Zürcher «Gschnätzlets».

2 Machen Gäste wunschlos glücklich: Gastgeber Gennaro d’Onofrio und «Chef de Service» Alicja Sosno.

4 Das Fünf-Sterne-Superior-Haus befindet sich im Wandel: Nicht nur das ehemalige «La Terrasse» erstrahlt in neuem Brasserie-Glanz, der die altbewährte Grandezza dennoch innehat, auch die Zimmer und Suiten sind sanft modernisiert. Weitere Infos und Reservation: victoria-jungfrau.ch


Wahrscheinlich, dass auch die Träume ganz «vo hie» sind, wenn man sich in das Kingsize-Bett fallen lässt: Vielleicht kunstvoll angerichtete Teller, die wie Ufos über dem sternenklaren Nachthimmel des Berner Oberland kreisen? Es dauert nur noch wenige Sonnenaufgänge, bis die «Grande Dame» in all ihrer noblen Neuheit erwacht. Gut möglich, dass man dann kurz die Augen zusammenkneift; nicht, weil es blendet, sondern, um sich zu vergewissern, wie zeitgemäss edel sie erstrahlt.


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