Schlicht überraschend

Auch nach über 25 Jahren des Modeschaffens vermag der Berner Designer Javier Reyes noch zu überraschen, was auch an seinen vielseitigen Inspirationsquellen liegt: Sie reichen von Architektur über Literatur bis hin zu Influencern.

Text Daniela Dambach  Foto Elena Kuznetsova

Wenn man eines sonnigen Tages durch die Berner Altstadt flaniert, kann es durchaus passieren, dass einem Javier Reyes mit dem Velo über den gepflasterten Weg fährt. Möglicherweise biegt er, mit Sonnenbrille auf der Nase und Tasche über der Schulter, in die Gerechtigkeitsgasse ein. An der Hausnummer 64 befindet sich sein Showroom, mit Nähmaschine und Schnitttisch. Erst vor rund zwei Jahren ist er mit seinem Label dort eingezogen – Letzteres hat er jedoch vor über 25 Jahren gegründet.


Mit Schneidern erschuf sich der gebürtige Mexikaner schon in jungen Jahren seine eigene Welt. Ehe er die Schneiderschule besuchte, mussten die Vorhänge, die Kostüme seiner Actionman-Puppe oder Mutters Bluse herhalten, um seiner drängenden Kreativität Luft zu verschaffen. Heute verarbeitet er ausschliesslich Naturfasern wie Seide, Leinen und Schweizer Baumwolle mit grafischen Drucken – den Hauptmaterialien, aus denen er seine neue Frühling-Sommer-Kollektion näht. Darunter auch Organdy, ein Gewebe aus feinstem Garn, das durch spezielle Veredelung glasigtransparent und leicht steif ist. «Ich wähle Materialien, die subtil wirken und dabei Sinnlichkeit ausstrahlen», erläutert der 53-Jährige mit einer Gelassenheit, die sich auf seine Kreationen zu übertragen scheint: Er räumt sich wochenlang Zeit ein für den Designprozess und gibt sich der schöpferischen Tätigkeit «bedingungslos» hin, was dem Gewebe schliesslich Gefühl einhauche. Entstehungszeit, die sich in der Gegenwart von «Fast Fashion» kaum mehr ein Designschaffender leistet – oder leisten kann. Auch Javier Reyes produzierte einst erhebliche Stückzahlen und präsentiere seine unaufgeregten Looks auf interna­tionalen Laufstegen, doch er besann sich auf das, wovon er in seinem Innersten überzeugt ist: «Die Zeit der Massenproduktion ist abgelaufen.»

Ausdruck dieser Haltung ist, dass im Showroom die Prototypen zur Anprobe bereithängen, weil seine Assistentin und er das ausgesuchte Kleidungsstück dann erst auf Bestellung anfertigen. So wird nicht mancher Sommertag verstreichen, bis sie für Kundinnen, Nadelstich für Nadelstich, klassische Blusen und lange Jupes massschneidern. «Eine Kombination, die etwas Lässiges, Gelassenes und doch Urbanes hat», bemerkt Javier Reyes. «Ich fokussiere mich auf eine Garderobe, die klassisch und zugleich modern wirkt – und im Alltag funktioniert. Das bedeutet auch, dass sie vielseitig kombinierbar und deshalb noch individueller wird. Es liegt mir am Herzen, dass sich die Trägerinnen mit der Mode identifizieren.»



Für die Findung der saisonalen Farbpalette arbeitet der Designer mit Moods: «Frauen sind facettenreich, so denke ich mich in ihre verschiedenen Stimmungen hinein.» Javier Reyes ist ein Mensch, der als stiller, soziologischer Beobachter durch Gassen, Galerien oder Grossstädte zieht – wie er es selbst umschreibt: «Designer sind zugleich Soziologen». So kommt es nicht von ungefähr, dass seine aktuelle Kollektion inspiriert ist von Mexikos berühmtestem Architekten Luis Barragán, den sinnlichen 70er-Jahre-Frauenporträts von David Hamilton, dem Buch «Der Mann im roten Rock» von Julian Barnes – aber gleichermassen von der Influencerin Jenny Walton, die – wie Javier Reyes findet – «eine Audrey Hepburn unserer Zeit» ist.



1 Javier Reyes. | 2 leid mit Wasserfall-Ausschnitt aus Leinen und Seide (Fr. 1200.–). | 3 Bluse aus Baumwolle (Fr. 480.–) und Jupe aus Seide (Fr. 680.–).


Sich im gestreiften Kleid in den Ledersattel zu schwingen und nicht mit der tiefschwarz getuschten Wimper zu zucken, wenn es auf dem unebenen Altstadt-Pflasterstein zünftig rattert – das wäre wohl ganz im Geiste des Berner Gewandmachers, denn es ist jene subtil-sinnliche Nonchalance, die er vermitteln will. Oder, um es frei nach der Hollywood-Ikone Audrey Hepburn auszudrücken: Die schönsten (Sommermode-)Romane werden erlebt – und nicht geschrieben.

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