Der zweimalige Schweizer Meister Wacker Thun steckt in finanziellen Nöten. Nun erst recht gefordert ist Nicole Kaufmann (28), die Geschäftsführerin des zweitwichtigsten Sportklubs im Berner Oberland. Eine Geschichte über eine Nimmermüde, die sagt: «Dass ich nicht erreichbar bin – das kommt nicht vor.»
Ganz kurz darf sie hoffen. Vielleicht ist das ja nun dieser rettende Anruf, auf den sie gewartet hat. Jener eines potenziellen Sponsors oder eines möglichen Geldgebers.
Es ist Tag 1, nachdem bekannt geworden ist, dass Wacker Thun in Schwierigkeiten steckt. Rund 150 000 Franken fehlen dem zweimaligen Schweizer-Handball-Meister
bis auf weiteres jährlich. Für einen Verein, der mit einem Gesamtbudget von 1.7 Millionen arbeitet, ist das eine Menge.
Die Rückmeldungen fallen zahlreich und grösstenteils konstruktiv aus. Wacker ist nach dem FC Thun der wichtigste Sportklub im Berner Oberland, dieser vergleichsweise so grossen Region. Entsprechend hoch ist das Standing, das die in der Vergangenheit bisweilen sehr erfolgreichen Handballer geniessen.
Nicole Kaufmann ist die Person, welche die Anrufe entgegennimmt. Und die Figur, über die ohnehin alles läuft. Die 28-Jährige ist die Geschäftsführerin – und die einzige Vollzeitangestellte des Vereins.
Was sie für Wacker tut, geht weit über das hinaus, was theoretisch in ihrem Pflichtenheft stünde. In der Lachenhalle ist sie allgegenwärtig – obwohl sie sich dort zumeist aufhält, wenn sie eigentlich frei oder zumindest Feierabend hätte. Hier, unweit des Thunersees, trainieren und spielen die zehn Mannschaft en, die der Klub stellt. Kaufmann ist immer und überall präsent, vermehrt auch an den Übungseinheiten der 1. Mannschaft, die wie der Gesamtverein keinen einfachen Herbst durchlebt. In diesen Momenten vertritt sie gewissermassen den Vorstand, dem sie auch angehört. Sie sagt, die Spieler sollen spüren, dass der Klub hinter ihnen steht.
Von ebendiesen Spielern wird sie in hohem Masse geschätzt. Weil sie längst realisiert haben, wie viel sie für den Verein tut. Und weil Kaufmann als frühere Aktive eine gewisse Glaubwürdigkeit mitbringt.
Die Thunerin war als Teenagerin ein Talent auf der Rückraummitte-Position; wer diese belegt, sagt, wo es langgeht. Verletzungen verunmöglichten in ihrem Fall eine Karriere in der höchsten Liga. Den Takt gibt sie nun abseits des Feldes vor.
Im Frühsommer 2020 übernimmt sie die Funktion: mitten in der Coronakrise und damit zu einem… nun ja, reichlich undankbaren Zeitpunkt. Ihr Engagement stösst medial auf ein gewisses Interesse, zumal mit dem SC Bern unlängst ein anderer Berner Player eine Führungsposition mit einer Frau belegte, als er Florence Schelling zur Sportchefin ernannte. Und es ist bemerkenswert – weil nun mal eher ungewöhnlich –, dass eine junge Frau einen Verein führt, in dessen Umfeld
sich primär Männer bewegen.
Die turbulenten ersten Monate
Gleich sieht sie sich mit unerwarteten Herausforderungen konfrontiert. Bald beginnt die Phase, in der erst sogenannte Geister- und danach Spiele vor wesentlich reduzierter Zuschauerkulisse ausgetragen werden. Kaufmann, da erst 25-jährig, erarbeitet ein Schutzkonzept und setzt dieses vor Ort durch. Zu jenem Zeitpunkt verfügt sie lediglich über ein 80-Prozent-Pensum; es vergeht aber kein Tag, an dem sie nicht arbeitet. Der Herbst 2020 gerät besonders intensiv. In einem Interview mit der «Berner Zeitung» sagt sie, dass es mitunter schlaflose Nächte gebe.
Ruhiger ist es nicht geworden. Im Sommer 2021 benötigen die Oberländer Handballer urplötzlich eine temporäre Bleibe; die Lachenhalle kann als Folge einer Überschwemmung monatelang nicht genutzt werden. Später reduziert ein Hauptsponsor sein Engagement in beträchtlichem Umfang. Gepaart mit der allgemeinen Wirtschaft slage ist das ein grosses Problem für den Klub, der zwar ganz gut durch die Pandemie gekommen ist, aber wie viele Sportvereine ständig um die Existenz kämpft , eben mal mehr, mal weniger.
Und so sitzt die inzwischen 28-Jährige im Herbst 2023 in einem kleinen Büro, in dem sich der Klub eingemietet hat – und hofft klammheimlich auf diesen einen Anruf, der Hilfe verspricht. Doch der Mann, der sich an jenem Morgen meldet, erweist sich nicht als Vertreter eines potenziellen Sponsors oder gar als eine Art Gönner; er will ihr bloss sagen, was sie nun zu tun habe – dann komme es schon gut.
Kaufmann glaubt daran, dass sie und ihre Mitstreiter Lösungen finden werden. Wenngleich sie schon in der Vergangenheit nichts unversucht gelassen hat. Sie sagt, ihr Verein könne die Leute dann überzeugen, wenn diese vor Ort seien und sähen, wie gearbeitet werde. «All die freiwilligen Helfer, dieser unvergleichliche Geist, die Intensität während des Spiels, die Nähe zu den Akteuren: Damit können wir punkten.»
Zu punkten vermag der sechsmalige Cupsieger im Herbst 2023 auf dem Platz nicht regelmässig. Nach schwierigem Saisonstart findet er sich vorübergehend auf Rang 9 und damit erstmals seit geraumer Zeit auf einem Nicht-Playoff - Platz wieder. Vor fünf Jahren noch war Wacker Meister und Champions-League-Teilnehmer. Es ist ein allmählicher «Abstieg », den die Th uner verzeichnen. Und weil sie sparen müssen, während die Konkurrenz teils über bemerkenswert viel Geld zu verfügen scheint, werden sie nicht so schnell wieder um Titel spielen. Was sich freilich in den Zuschauerzahlen niederschlägt.
Glänzende berufliche Perspektiven
Das Leben der Geschäft sführerin richtet sich nach dem Spielplan, wie sie sagt. Ferien bezieht Kaufmann zwar – auch weil sie gesetzlich dazu verpflichtet ist. Wirklich abschalten aber könne sie kaum, erzählt sie: «Dass ich nicht erreichbar bin – das kommt nicht vor.» Ein Szenekenner sagt mit einer Mischung aus Sorge und Bewunderung: «Es grenzt an ein Wunder, dass Nicole noch kein Burn-out erlitten hat.»
Die 28-Jährige meint, sie werde das nicht ewig machen können. Einen Master in Medienforschung und Kommunikationswissenschaft hat sie in der Tasche; an der Deutschen Sporthochschule Köln absolvierte sie eine Weiterbildung zum European Handball Manager. Wer über derlei Fähigkeiten und einen entsprechenden beruflichen Background verfügt, dürfte dereinst eine sehr begehrte Arbeitskraft sein. Noch aber gehört ihre Aufmerksamkeit vollumfänglich Wacker Thun, ihrem Herzensverein.